New Orleans
pixabay/nicolebauer3004
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Lust aufs Leben

Jas? Jass? Jazz? Der Soundtrack aus zwei Jahrhunderten

Im zweiten Teil unserer Jazz-Serie in der Radiosendung „Lust aufs Leben“ geht um Big Band Sound und Swing in Chicago, Kansas City und New York ab 1920 – am Sonntag ab 21.03 Uhr.

Schon mit Beginn des ersten Weltkriegs begann eine härtere Zeit für die Vergnügungsviertel in New Orleans und damit auch für die Musiker. Viele sahen sich weiter nördlich um Arbeit um. Als dann der Red Light District „Storyville“ im November 1917 vom Marineministerium geschlossen wurde, kam es zum musikalischen Exodus entlang des Mississippi nach Chicago, das ungefähr 1500 km entfernt von New Orleans am Südwestufer des Michigansees liegt. Für die Abwanderung New Orleanser Musiker in den Norden waren auch andere Faktoren ausschlaggebend. Der wichtigste Grund war übergeordneter Natur. Für die versklavte schwarze Bevölkerung war der Norden der USA der Traum von der Freiheit, das gelobte Land, in dem es hohe Löhne und keine Unterdrückung gab. So sagte es der Mythos.

Musiker spielt Piano
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„Kansas City here I come and Tuxedo Junction"

Chicago unterschied sich von Städten wie Detroit, Philadelphia und New York dadurch, dass es den Unterhaltungsbedürfnissen aller Schichten in extremen Maße entgegenkam. Chicago wurde als „weit offene“ Stadt gesehen, die sich durch eine stark ausgeprägte Kooperation zwischen Politikern, Polizei und Unterwelt auszeichnete. 1919 wurde die Herstellung, der Verkauf und der Transport von alkoholischen Getränken in ganz USA verboten. Für Gangster begann eine herrliche Zeit. Sie stellten illegal Gin her, schmuggelten Whisky und vertrieben sie in sogenannten Flüsterkneipen in Chicago, Kansas City und anderen Städten. Durch die Prohibition sollten die USA eigentlich moralisch und körperlich gesunden, doch stattdessen boomte das organisierte Verbrechen, vor allem Al Capone kennt man aus dieser Zeit noch sehr gut.

Sendungshinweis:

„Lust aufs Leben – Kultur aus allen Richtungen“, 26.1.20

Erst 1933 wurde das allgemeine Alkoholverbot beendet. Jazzmusiker hatten in den Lokalen, in denen sich schwarzes und weißes Publikum drängte, reichlich zu tun. Schätzungsweise gab es in Chicago 20.000 Etablissements, in denen illegal Alkohol verkauft wurde, wobei das Spektrum von hochklassigen Nachtklubs bis zu schäbigen Trinkkneipen und verrauchten Bars reichte. Es gab Taxi-Tanzhallen, in denen Gäste für 10 Cents mit einem der Mädchen eine Runde drehen konnten, es gab die von Gangstersyndikaten kontrollierten Kabaretts und Cafes, die Biergärten, Ballsäle, Hotels und Roadhouses bis hin zu den großen Theatern, in denen Jazzmusiker solo spielten oder mit einem Tanzorchester eine Show oder einen Stummfilm begleiteten.

Es war vor allem die „South Side“ in Chicago, in die die Zuwanderer aus dem Süden drängten. Die „South Side“ war ein Getto, das Viertel der Afroamerikaner, aber hier wurde der beste schwarze Jazz gespielt. Hier bildete sich ein Jazzleben, das in seiner Art so rege war wie zehn oder zwanzig Jahre vorher in New Orleans. Es fehlte nur der fröhliche Überschwang der alten New-Orleans-Zeit, stattdessen spiegelte sich das hektische Leben der Großstadt am Lake Michigan mit Wolkenkratzern und seinem tosenden Verkehr in der Musik.

Neuankömmlinge hatten es schwer

Die Neuankömmlinge aus New Orleans mussten sich in Chicago auf das neue Leben einstellen. Sie hatten ihre bisherigen Gewohnheiten und Sitten anzupassen, sie mussten sich an ein dezentes Auftreten gewöhnen, ihren Kleidungsstil verändern und ihren Akzent ablegen. Nachtklubs und Kabaretts verlangten nach eleganter Kleidung. Es gab nicht nur schwarze Jazzmusiker im Chicago der 20er-Jahre, sondern auch weiße, die aus New Orleans in den Norden gezogen sind. Eine davon war die Original Dixieland Jazz Band, die wir bereits in der ersten Folge dieser Serie gehört haben.

New Orleans
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Der Mythos sagt, dass diese Band die erste in der Geschichte war, die 1917 mit dem „Livery Stable Blues“ die erste Jazzplatte aufgenommen hat. Eine zweite wichtige weiße Band in Chicago waren die „New Orleans Rhythm Kings“. Diese Band um den Trompeter Paul Mares, den Klarinettisten Leon Ropollo und den Posaunisten George Brunis waren nach der Original Dixieland Jass Band die erfolgreichste Gruppe des weißen New Orleans Jazz, den man auch Dixieland nennt. Sie spielen den klassischen kontrapunktischen Stil mit Kornettführung, während die Klarinette sich auf- und abwärts durch die Melodie bewegt und die Posaune für den letzten Schliff sorgt. In erster Linie improvisieren sie nicht, sondern spielen sorgfältig ausgearbeitete Arrangements, die sie während des Spielens ausschmücken oder variieren.

Fehden, Razzien – und Ende in Chicago

1927 ging es auch mit den Bands in Chicago zu Ende. Zahlreiche Jazzclubs waren von Fehden zwischen rivalisierenden Banden betroffen, es kam zu Bombenangriffen, die das Publikum abhielt, die Clubs zu besuchen. Das FBI und andere Behörden waren gezwungen, rigoros durchzugreifen. Razzien in Cabarets und Clubs werden durchgeführt. In der Stadtverwaltung von Chicago setzen sich mehr und mehr die Moralisten durch, die von der Bevölkerung unterstützt werden. Diese rennen auch gegen den Sittenverfall an, der mit dem Jazz in Verbindung gebracht wird. Die schwarzen Musiker werden immer mehr zur Zielscheibe von Anfeindungen. Der Rückgang des Jazzlebens wird auch dadurch begünstigt, weil gegen Ende der Stummfilmzeit viele Filmorchester, die Filme live während der Vorführung begleiteten, durch Phonographen ersetzt wurden.

1927 hielt mit „The Jazz Singer“ der Tonfilm Einzug ins amerikanische Kino. Viele Jazzmusiker hatten ihren Lebensunterhalt aber hauptsächlich bei Filmvorführungen verdient. 1928 wiederholte sich in Chicago, was elf Jahre zuvor in New Orleans durch die Schließung des Rotlichtbezirkes „Storyville“ bewirkt worden war. Das ist noch ein Jahr bevor es zur schlimmsten Wirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts kommen wird. 1929 crashte die New Yorker Börse, Millionen Menschen verloren ihr Vermögen, ihren Arbeitsplatz, ihre Rente. Schon zuvor kam es zur Migration von Musikern ostwärts nach New York, wo es noch Arbeit gab.

New York wird Unterhaltungszentrum

Der „Big Apple“ galt zu jener Zeit als die kommende Stadt des Jazz, weil sich mit dem Radio ein neues Medium durchsetzte, das Zukunft hatte und vor allem Jobs versprach. So zog es die amerikanischen Jazzmusiker magisch nach New York, dem Zentrum des Entertainments, des Business‘ und der Heimat der Musikindustrie. New York war damals, ähnlich wie einst New Orleans, der Hexenkessel, in dem sich Neues anbahnte. Überall in der Stadt spielten große Orchester, in denen Solisten glänzten. Sie bot einen Überfluss an Tanzsälen, Theatern und Clubs, um den Appetit auf Unterhaltung zu befriedigen. Die Hochburg des Jazz war Harlem. Dort entsteht der Swing und mit Benny Goodman der „King of Swing“. Neben ihm etabliert sich auch ein „Herzog“, nämlich Edward „Duke“ Ellington. Eine der besten Swingbands leitet ein „Graf“, Count Basie.

New Orleans
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Charakteristisch für den Swing-Stil der 30er-Jahre war das Entstehen großer Orchester, der Big Bands. Schon relativ früh in den 1920er-Jahren hatte mit der ökonomisch motivierten Vergrößerung der Tanzsäle eine akustisch notwendige Vergrößerung der Besetzungen begonnen. Immer deutlicher kristallisierte sich eine Standardbesetzung mit vier Gruppen heraus. Dem Saxophonsatz oblag meist die Melodieführung, neben der Trompeten- und Posaunengruppe gab es die Rhythmusgruppe mit Bass, Schlagzeug, Gitarre und Klavier. So wuchsen die Satzgruppen auf fünf Saxophone, drei oder vier Trompeten und zwei bis vier Posaunen und damit ein Bläsersatz, der die Blasinstrumente wie einen einheitlichen und homogenen Klangkörper führt.

Saxophon wurde wichtigstes Instrument

Die führende Rolle der Trompete oder noch des Kornetts ging an das Saxophon über. Die Tuba, im New-Orleans- und im Chicago-Jazz oft als Bassinstrument benutzt, verschwindet aus der Standardbesetzung zugunsten des Kontrabasses. Neben der Ausbildung dieser Big Bands gewinnt auch der einzelne Solist immer größere Bedeutung, obwohl das scheinbar widersprüchlich klingt. Der Jazz war stets gleichzeitig die Musik eines Kollektivs und die des Individuums. Swing Jazz war die angesagteste und populärste Musik. Er war überall zu hören: im Radio, auf Schallplatten, im Kino und live in Tausenden von Ballsälen und Nachtclubs von Küste zu Küste. Er war das, was wir heute Popkultur nennen würden.

Gegen Ende der 30er-Jahre war aus dem Swing ein gigantisches Geschäft geworden. Immer deutlicher zeichneten sich Tendenzen ab, die zum Abflauen des Swingbooms beitragen sollten. Die Musik, die dem allgemeinen kommerziellen Bedürfnis zu genügen hatte, erstarrte in Klischees. Ein recht jähes Ende fand die Entwicklung dann durch den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg. Einberufungen zum Militärdienst machten es immer schwieriger, die großen Ensembles zu halten. Viele Musiker, die ihren Einberufungsbescheid erhielten, mussten durch andere, oft weniger talentierte oder auch unerfahrenere ersetzt werden. Es kommt im Bigband-Jazz zu einer gewissen Verflachung, allzu Anspruchsvolles war nicht mehr gefragt.

Michael Huemer / ooe.ORF.at