New Orleans 1917
wikimedia.org/Infrogmation
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Jazz – Von den Wurzeln zum New Orleans Jazz

„Tiger Rag and Basin Street Blues" – Um 1890 – Von den Wurzeln zum New Orleans Jazz: Das erwartet Sie am Sonntag, 12.1. ab 21.03 Uhr in der Sendung „Lust aufs Leben“. Es ist der Auftakt einer siebenteiligen Sendung über den Jazz.

Die Geschichte des Jazz, soweit sie nachvollziehbar ist, beginnt an einem Fluss, nämlich am Mississippi, egal ob man den Anfang dieses Stils im Ragtime von St. Louis oder in der Alltagsmusik von New Orleans sieht. Das Zentrum des frühen Jazz, des archaischen Jazz, liegt zweifellos in New Orleans. Die Stadt wurde zu Anfang des 18. Jahrhunderts am Unterlauf des Mississippi in einer Biegung des Flusses von Franzosen gegründet. 1722 wird La Nouvelle Orléans zur Hauptstadt der nach Louis XIV. benannten Kolonie Louisiana. 1769 tritt das geschwächte Frankreich im siebenjährigen Krieg New Orleans an Spanien ab bevor es Napoleon 1803 überhaupt für 15 Millionen Dollar an die Amerikaner verkauft.

Scharen von Einwanderern kamen nach New Orleans

Durch die wechselnden Zugehörigkeiten – französisch, spanisch, amerikanisch – war die Stadt einer Vielfalt von Einflüssen ausgesetzt. New Orleans war auch Hafenstadt, nicht weit entfernt liegen Kuba und Haiti in der Karibik. Scharen von Einwanderern aus Europa wanderten in die Metropole ein. Eine direkte Schifffahrtslinie von Palermo nach New Orleans führte zum Zuzug vieler Süditaliener. Eine Bevölkerungsgruppe besonderer Art bildeten die schwarzen Einwohner. 1803 bestand etwa die Hälfte der Bevölkerung von New Orleans aus Afrikanern, man zählte rund 5.000. Ein halbes Jahrhundert später betrug diese Zahl 24.000 und davon wiederum waren mehr als die Hälfte Sklaven, die sich unfrei und unterdrückt an der untersten Sprosse der sozialen Leiter befanden. Ihnen standen die farbigen Nachfahren aus den Verbindungen zwischen weißen – d. h. in der Regel französischen – Männern und schwarzen Frauen gegenüber.

New Orleans
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Raddampfer in New Orleans

„Les gens de couleur libres“

Rasch kam der Wunsch auf, den farbigen Nachkommen aus diesen Verbindungen die rechtliche Gleichstellung mit den Weißen zu garantieren, woraus die sogenannten „gens de couleur libres“, die „freien Farbigen“ von New Orleans hervorgingen. Sie nannten sich Kreolen und bildeten neben Schwarzen und Weißen die dritte Ethnie. Für diese Gruppe von Menschen brachte der Amerikanische Bürgerkrieg und die anschließende Aufhebung der Sklaverei im Jahre 1865 eine Wendung zum Schlechten. Die Kreolen, die nach ihrem Selbstverständnis über den schwarzen Plantagenarbeitern standen, wurden ihnen gleichgestellt. Alle Privilegien, die sie gegenüber den schwarzen Sklaven genossen hatten, wurden gestrichen und die Kreolen begannen, sich mit den Schwarzen gezwungenermaßen zusammenzutun. Das Zusammenrücken dieser beiden Volksgruppen war der Katalysator für das, was wir heute Jazz nennen: Die Kreolen mit ihrem in Schulen erlernten musikalischen Wissen und die jetzt freien Sklaven mit ihrer unverfälschten Musik. Die Freude der befreiten Sklaven währte jedoch nur kurz: Rassismus und strikte Rassentrennung blieben aufrecht, gesetzlich verankert durch das Prinzip des „seperate but equal“.

Sendungshinweis

„Lust aufs Leben“, 12.1.20

Diese Situation und die sich daraus ergebenden kulturellen Konsequenzen waren einzigartig in New Orleans und trugen maßgeblich zur Herausbildung des Jazz bei. Die Stadt im Mississippi-Delta war, nicht zuletzt wegen ihres Vergnügungsviertels Storyville, ein besonders lebensfreudiger Ort, an dem sich die Temperamente und Kulturen der verschiedensten ethnischen Gruppen ballten, die alle ihre Musik mitbrachten. Ein einzigartiger Schmelztiegel mit einem Strom, dem Mississippi als wunderbarer Resonanzkörper. Die Klänge der Stadt waren allgegenwärtig, sie wurden durch die Wassermassen und die hohe Luftfeuchtigkeit in die Umgebung getragen. Die Schwerfälligkeit des großen Stromes dominierte und dämpfte die Dynamik des Lebens.

New Orleans
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New Orleans heute

Kulturelles Eldorado für die früheste Jazzmusik

Während andernorts die Tradition aufgefressen wurde, wollte sich Fortschritt in New Orleans nicht so recht einstellen. Ein kulturelles Eldorado für die früheste Jazzmusik, gespielt hauptsächlich von Afroamerikanern, die ihren Blues, ihre Spirituals, ihre Worksongs mit europäischer Musik und europäischen Instrumenten zusammenschließen. Die Charakteristiken dieses Frühjazzs weisen auf Verbindungen zu Techniken der westafrikanischen Musik hin. In Sklavenliedern auf den Baumwollfeldern antworteten die Arbeiter im Chor auf Passagen eines Vorsängers, „Call and Response“ wird dieser Wechselgesang genannt. Die Solopassagen werden dabei melodisch durch Improvisation ausgearbeitet, was den Jazz am deutlichsten von der klassischen Musik abhebt. Am unmittelbarsten zeigt sich das afrikanische Erbe des Jazz in der Rhythmik. Mangels Trommeln nutzten die Sklaven rhythmisches Händeklatschen oder Schläge und Hiebe mit Werkzeug und Arbeitsgeräten als Fundament für Gesänge. Das dadurch entstehende Überlappen verschiedener rhythmischer Muster nennt man Polyrhythmik, eine der wichtigsten Grundlagen des späteren Jazz.

Weitere Genres, die auf schwarze Musik zurückgehen und die Entwicklung des frühen Jazz prägten, haben mit der Religion und den verschiedenen Kirchen zu tun. Es waren vor allem die Spirituals als außerliturgische religiöse Gesänge, die nach dem Gemeindegottesdienst über Stunden hin gesungen und durch Tänze, durch Händeklatschen und lebhaftes Fußstampfen begleitet wurden. Im Gottesdienst selbst entwickelte sich der Gospelgesang zwischen dem Prediger und spontanen Zurufen der Gemeinde. Das Musizieren in der Kirche mit den Weißen war ziemlich hart für afrikanische Musiker, da sie ihre Musik in ein euro-amerikanisches Korsett gezwängt sahen. Die Vermischung von afrikanischen Rhythmen mit europäischen Chorälen war entscheidend für die Erfindung des Jazz.

Blues-Musiker
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Der „Ragtime“

Zu einer Vorform des Jazz zählt eine Musik, die sich in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts zu entwickeln begann und als Ragtime bezeichnet wird. Ragtime meint nicht nur einen einigermaßen exakt zu beschreibenden Klavierstil, sondern gilt als Pauschalwort für das, was man im abschätzigen Sinn als „Negermusik“ ansah. Dem Ragtime fehlt ein entscheidendes Kennzeichen des Jazz: die Improvisation. Aber er swingt und man rechnet ihn deswegen gerne dem Jazz zu. Hauptstadt des Rag war nicht New Orleans, sondern Sedalia im Staate Missouri.

Um die Jahrhundertwende war in New Orleans eine gigantische Vergnügungsindustrie entstanden. Neben den Bordellen und Hurenhäusern, die manchmal auch „sporting houses“ genannt wurden, gab es unzählige Kneipen und Clubs, Spielhöllen und Restaurants, Dance Halls, Honky-Tonks und Cabarets, auch eine Pferderennbahn war vorhanden. Alle diese Vergnügungslokale boten den Musikern Arbeitsmöglichkeiten und gerade in den Etablissements, die etwas auf sich hielten, gab es Pianisten, die in einem der Wartezimmer die Kunden unterhielten und in Stimmung brachten. Während in der intimen Atmosphäre der Salons also meist Alleinunterhalter tätig waren, waren auf der Straße draußen größere Bands unterwegs. Wichtig für den Jazz waren die schwarzen Blaskapellen, die „Brass Bands“, die „Marching Bands“, die sich an europäischen Militärkapellen orientierten und oft verfremdete Märsche spielten. Sie hatten den Gottesdienst auf die Straße zu tragen und bei Platzkonzerten, Freiluftveranstaltungen und anderen Gelegenheiten unter freiem Himmel aufzutreten. Vor allem zur Karnevalszeit, dem „mardi gras“, gab es Paraden und Umzüge, bei denen mehrere Gruppen hintereinander durch die Straßen zogen. Diese Blechblaskapellen umfassten zwei bis drei Kornetts, also Trompeten, ein bis zwei Posaunen, Klarinette, Tuba und kleine und große Trommeln, die vor den Bauch geschnallt waren, weil man ja mobil sein musste, wenn man die Basin Street rauf und runter geht.

New Orleans
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Onestep, Twostep, Foxtrott, Cakewalk, Shimmy …

Die Musizierfreude in New Orleans war ungeheuer, es gab in der Stadt im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts etwa dreißig Orchester. Das muss man sich vorstellen. Die Stadt am Mississippi-Delta hatte damals an die 200.000 Einwohner, das ist die Größe von Linz. Zeitgenössische Reisebeschreibungen berichten geradezu von einer Tanzwut der New Orleanser. Das Spektrum der Tanzveranstaltungen reichte vom exquisiten Galaball, über die berühmt-berüchtigten Quadroon-Bälle, deren spezielle Attraktion hellhäutige Kreolinnen waren, bis hin zu den Tanztreffen der Unterschicht oder der Sklaven in den Tavernen am Rande der Stadt. Es stieg vor allem das Interesse am paarweise getanzten Gesellschaftstanz und die Bereitschaft, den Verlockungen des Eros nachzugeben. Neue Tänze erschienen in rascher Folge wie Onestep, Twostep, Foxtrott, Cakewalk, Shimmy und Blackbottom. Vielleicht war es die Isolation der Stadt als einsamer Vorposten Frankreichs mitten in der Wildnis. Weder Frankreich noch Spanien hielten intensiven Kontakt mit ihren Kolonien. In dieser Abgeschiedenheit bildete in New Orleans das Tanzen die naheliegendste und billigste Form gesellschaftlicher Unterhaltung. Gerade die alte französisch-spanische Stadtkultur der Delta-City begünstigte den kulturellen Austausch im Gegensatz zu anderen amerikanischen Städten, in denen Viktorianismus und Puritanismus tonangebend waren. Die Rocksäume der Damen begannen ihre unaufhaltsame Aufwärtsbewegung, das Korsett verschwand, das Haar wurde kurzgeschnitten. Die hohen steifen Herrenkragen wurden durch weiche Umschlagkragen ersetzt.

New Orleans
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Der exotische Mythos von New Orleans

New Orleans besaß für Weltreisende einen exotischen Mythos. Die beiden dort lebenden afroamerikanischen Bevölkerungsgruppen, waren die kreolischen und die amerikanischen Schwarzen. Der kreolische Teil ist kultivierter, gebildeter mit guten Kenntnissen im Notenlesen. Die amerikanische Gruppe ist die vitalere und spontanere, die ihre Musik vor allem mündlich weitergab, als oral tradierte. Im Zusammengehen dieser musikalischen Gruppen bildete sich der New Orleans-Stil. Der Jazz entstand also aus der Verschmelzung unterschiedlichster Kulturen, aus schwarz und weiß, aus europäischen und afrikanischen Traditionen, aus Blues, Gospel, Spiritual, Volks- und Militärmusik. Von den Europäern kam das Instrumentarium, insbesondere die Blasinstrumente aus den Militärkapellen und der Marschrhythmus, über die dann in afroamerikanischer Art „dirty“ oder „hot“ improvisiert wurde.

Michael Huemer; ooe.ORF.at