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Zeitkapsel: Franzobel mit Brief an Zukunft

Am Montagabend blickt „Oberösterreich heute“ zurück auf das Jahr 2022. Besonders feierlich wird es bei der Befüllung der Zeitkapsel, die anlässlich „50 Jahre ORF Oberösterreich“ hergestellt wurde. Dafür haben sich einige Prominente etwas einfallen lassen, darunter auch Autor Franzobel.

Sendungshinweis:
Jahresrückblick 2022, 19.12.22, 20.15 Uhr, ORF2 (OÖ)

Es ist ein „Brief an die Zukunft“, der am Montagabend in die Zeitkapsel des ORF Oberösterreich eingeworfen wird. Geschrieben von keinem Geringeren als Franzobel. Doch was schreibt man der nachfolgenden Generation, die die 20 mal 20 Zentimeter große, kunstvoll verzierte Metallbox in 50 Jahren öffnen wird? Für den Erfolgsautor eine nicht ganz einfache Aufgabe.

„Ich bin natürlich einerseits immer ein Optimist, hab aber auch erlebt, dass es immer wieder düstere Prognosen gegeben hat für die Zukunft. Die hat es ja in der Geschichte immer wieder gegeben“, so Franzobel. Auch weil viele Prognosen so nicht eingetroffen sind, habe er eine gewissen Gelassenheit diesbezüglich. Weniger ruhig lässt ihn der Gedanke an den Klimawandel. Die Ungewissheit darüber, was tatsächlich einmal kommen wird, lässt den Autor bewusst im Augenblick leben. Und das ist auch die Botschaft seines Textes.

Autor Franzobel bei einem Interview
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„Brief an die Zukunft“
Franzobel, 2022

Brief an die Zukunft

Hallo! Ist da jemand? Zukunft! Nein?

Immer wenn ich der Zukunft begegnet bin, war sie groß, riesig, übermächtig. Und immer haben alle vor ihr gebuckelt, gekuscht, wurde alles ihr geopfert. Die Zeit, Menschen, Spiele, alle Gegenwart. Und hat die Zukunft, dieser gefräßige Futurismus-Drache, sich nachträglich bedankt? Ist sie sich dieser Entbehrungen und Aufsparungen bewusst? Die Zukunft ist die Spitze aller Vergangenheit, die Projektion aller Gewesenen, der Weisheit letzter Schluss, aber auch sie wird bald Geschichte sein, von den eigenen Kindern überrollt, darf wie wir alle den Satz niemals vergessen, der den Besuchern der Kapuzinerkatakomben Roms von modernden Schädeln und vergilbten Gebeinen entgegengehalten wird: Was ihr seid, sind wir gewesen, was wir sind, werdet ihr sein.

Denn vergesst nicht, ihr Nachgeborenen, die Geschichte ist ein großer Haufen Scheiße, bei dem jede Generation von der nächsten zugeschissen wird.

Wer seid ihr also, ihr nachweltlichen Zukunftianer? Menschen? Welche, die auf Beinen gehen, mit Mündern sprechen, essen, küssen, lachen? Oder Hirne in Aquarien? Gigantische Speicherkapazitäten? Neuronennetze? Tiefgefrorene Genstrukturen? Chinesen? Oder seil ihr längst unsterblich und lebt gar nicht mehr auf der Erde? Die Zukunft ist immer so, wie man sie sich nicht wünscht, nicht vorstellt. So wie Kinder, die auch stets das Gegenteil von ihren Eltern wollen, anders als erwartet sind.

Jedenfalls, ihr zünftigen Zukunftingers, die ihr in uns seid wie die kleinsten Püppchen in den russischen Matroschka-Puppen, wie auch alle Vorfahren irgendwo in unseren und euren Genen sind, jedenfalls frage ich mich, und das ist zugegeben eine peinliche Frage, ungefähr so, wie wenn man als Schriftsteller in eine Buchhandlung geht, und wissen will, ob sein letztes Buch vorrätig ist, … ja, zu meiner Zeit, 2022, gibt es noch Buchhandlungen und wirkliche, auf Papier gedruckte Bücher … eine entsetzliche Frage, aber irgendjemand muss sie stellen, also frage ich euch: Habt ihr eine Meinung über uns? Sind wir vorrätig in euch? Oder längst vergriffen?

2022 war kein besonders gutes Jahr. Erst gab es eine alles lahmlegende, aber doch irgendwie auch harmlose Pandemie, die wir Corona nannten, und dann einen Krieg in der Ukraine. Ob diese Ereignisse in euren Geschichtsbüchern mehr als Fußnoten sind? Vermutlich. Vielleicht aber auch nicht. Aus heutiger Sicht werdet ihr mit einer anderen Sache zu kämpfen haben, die wir gerade anrichten, dem Klimawandel. Es gibt schreckliche Prognosen und ihr werdet nicht verstehen, warum wir nicht mehr getan haben. Der Mensch ist bequem und egoistisch, das war er immer schon. Was er nicht sieht, glaubt er nicht. Es gibt gerade junge Leute, die sich an Straßen festkleben und Kunstwerke mit Tomatensuppe oder Erdäpfelpüree bewerfen, um auf die Dringlichkeit des Klimaschutzes aufmerksam zu machen. Sie werden nicht ernst genommen. Ja, das ist tragisch, aber der Mensch war immer kreativ und hat oft an Endzeiten geglaubt. Ich hoffe, ihr habt Lösungen gefunden und müsst nicht in klimatisierten Gewächshäusern oder Raumstationen leben.

Sprecht ihr von der guten alten Zeit? Von einer Epoche des Wohlstands und der Freiheit, einer Zeit der Grenzöffnungen, Bewusstwerdungen, Globalisierungen? Oder denkt ihr nur das Schlechteste? Ist für euch der Anfang des 21. Jahrhunderts wie für uns die Nazizeit, finsterstes Mittelalter? Ein Hort der Barbarei? Zeit bestialischer Tiertransporte, Genexperimente, Klimakatastrophen, sinnloser Kriege und moralischen Verfalls? Denkt ihr so wie wir über Schih Huang Ti, jenen ersten Kaiser Chinas, der den Bau der großen Mauer anordnete und alle Bücher verbrennen ließ, die vor ihm waren? Wir bauen keine Mauern, unsere Prestigebauten sind Fußballstadien, Staukraftwerke, Wolkenkratzer. In den Städten errichten wir keine Kirchen, sondern Autohäuser, Tankstellen, Baumärkte, Bankhäuser – das sind die Tempel unserer Zeit. Wir sind unwahrscheinlich reich und mindestens genauso egomanisch.

Unsere Gebäude sind aus Glas, weil wir nichts verbergen. Transparent, abwaschbar, eine Epoche völliger Entblößung. Unser Pranger heißt Internet und die Menschen ketten sich an soziale Medien, betreiben Seelenstriptease oder lassen sich davon beschmutzen. Die Medizin schickt Sonden in die Körper wie die Wissenschaft Satelliten in das Universum, zeigt Tumore, Embryos und Rote Riesen, der Staat weiß alles über alle und wir wissen alles über ihn, zumindest theoretisch. Im Internet gibt es nichts, was nicht zu sehen ist, nichts, was nicht behauptet wird. Unsere Zeit vernichtet Geheimnisse, obwohl sich alle danach sehnen. Gleichzeitig gibt es so viele Wahrheiten, dass keine gültig ist.

Die Welt ist zu einem großen Dorf geworden. Erst weltumspannende Kriege, dann das Fernsehen, jetzt das Internet. Aber sind sich die Menschen nähergekommen? Während wir längst vermodern oder zu Asche zerfallen sind, habt ihr eure eigenen Probleme. Glaubt ihr noch an Humanismus, Aufklärung und Demokratie? An die Liebe? Oder an ganz was anderes?

2022 wird die private Geschichte noch geehrt, gibt es mehr gefilmte und photographierte Wirklichkeit als gelebte, aber Typen und Charaktere werden abgeschliffen. Wir leben in Schablonen, in Markennamen, Lebenslaufhülsen, sind entfremdet, einsam, unglücklich. Nein, das stimmt so nicht. Noch nie in der Geschichte der Menschheit ging es den Leuten so gut wie uns. Die Lebenserwartung ist gestiegen, alle jetten um den Globus, es gibt eine unglaubliche, und für die meisten auch leistbare Konsum- und Warenwelt. Und doch ist alles ein Tanz auf dem Vulkan. Ein paar wenige werden immer reicher, viele sind verschuldet, fast niemand ist zufrieden.

Jede Generation versucht aufs Neue ein gelungenes Leben zu leben – und scheitert. Woran wir gescheitert sind? Vielleicht daran, dass uns die Würde, die Liebe, die Poesie und der Witz abhanden gekommen sind, wir alles der Karriere eingerechnet haben? Oder weil wir den Sinn für die Natur verloren haben?

Bei Kindern ist es häufig so, dass es den Eltern später leid tut, dass sie zu wenig Zeit mit ihnen verspielt haben. Wird es mit der Zukunft ähnlich sein? Immer wenn ich der Zukunft begegnet bin, war sie groß, riesig, übermächtig. Und immer wurde ihr alles geopfert. Zukunft? Zünftige? Hallo! Ist da wer?

Ich habe es immer abgelehnt, auf etwas zu sparen, ich habe immer den Augenblick gelebt, weil in jedem Moment alle Zukunft und alle Vergangenheit enthalten ist wie alle Vorfahren und alle Nachkommen in uns stecken, wir es sind, die aus dem Kontinuum der Möglichkeiten eine Variante verwirklichen. Ich war stets ein Verfechter der Gegenwart. Alle Vertröstungen, egal ob in der Religion oder beim Sparen waren mir suspekt. Darum Leben! Leben! Genießen wir die Gunst der Stunde. Seien wir froh, dass wir noch leben – egal ob 2022 oder irgendwann. Bestaunen wir die Schöpfung. Leben wir das Leben. Jetzt! Und wenn es richtig ist, schlüssig, dann stimmt es auch für das, was später kommt, für alle Zeit, für Euch, die ihr diese Zeilen irgendwann mal lesen mögt und hoffentlich darüber lächeln könnt.

Franzobel, November 2022