Jazz
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Lust aufs Leben: Die erste Jazzplatte der Welt

Das ursprünglich geplante letzte Kapitel der siebenteiligen Serie „Jas? Jasz? Jazz? – Der Soundtrack aus zwei Jahrhunderten“ ist dem Corona-Virus zum Opfer gefallen. Stattdessen wird Michael Huemer das Rad der Geschichte um einhundert Jahre zurückdrehen: 1917, im Februar wurde die erste Jazz-Schallplatte der Welt gepresst

Es war der 26. Februar 1917, an dem die Original Dixieland Jazz Band zwei Musikstücke in New York aufnahm. Kurze Zeit später erschienen diese beiden Titel auf einer 78er-Schellack. Der eine heißt „Livery Stable Blues", der andere „Dixieland Jass Band One Step". Keiner konnte damals ahnen, dass sie, die Stücke und die Band Geschichte schreiben würden – mit der ersten Jazzplatte, die jemals eingespielt worden ist.

Der Mississippi als Ursprung

Am Anfang war es ein Fluss. Egal, ob man den Beginn des Jazz im Ragtime von St. Louis oder in der Alltagskultur von New Orleans ansetzen will, es war in jedem Fall der Mississippi. Das Zentrum des frühen Jazz war New Orleans, eine Hafenstadt. Schon durch die geographische Lage war die Stadt einer Vielfalt von Einflüssen ausgesetzt. Die Karibik, speziell Kuba und Haiti, lagen in der Nachbarschaft.

New Orleans
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Aus Europa fielen Scharen von Einwanderern ein, zwischen Palermo und New Orleans gab es eine direkte Schifffahrtslinie, was zum Zuzug vieler Süditaliener führte.

Der Ragtime als Vorstufe des Jazz

Die zumeist männlichen Einwanderer wollten Familien gründen, was aber nur mit schwarzen Sklavinnen möglich war. Aus diesen Verbindungen gingen die Kreolen als dritte ethnische Hauptgruppe neben den Schwarzen und den Weißen hervor. Die wichtigste musikalische Vorstufe des frühen Jazz war der Ragtime. In ihm vereinigten sich volkstümliche Musikrichtungen wie Blues, Spiritual, Folksongs, Cakewalk. Unangefochtener Star dieses Klavierstils war Scott Joplin, von ihm stammen Hits wie der „Maple Leaf Rag“, der „Pine apple Rag“ und „The entertainer“, der im Film „Der Clou“ verwendet wurde.

Musik traf genau den Nerv der Zuhörer

In New Orleans war eine Band populär, sie bestand aus fünf Weißen unter der Leitung des Kornettisten Nick LaRocca. Der 1889 geborene Spross sizilianischer Einwanderer schaffte es, seine vier Mitstreiter vom starren durchkomponierten Schema des Ragtime abzubringen und melodisch-rhythmisch das zu machen, was den Jazz auszeichnete.

Sendungshinweis:

„Lust aufs Leben – Kultur aus allen Richtungen“, 5.4.20

Ob es LaRoccas Idee war, wie er später behauptete, dass er der Erfinder des Jazz wäre, sei dahingestellt. Seine Musik traf jedenfalls genau den Nerv einer jungen Zuhörerschaft, die sich in tristen Zeiten auf etwas stürzen konnte, was ihre Elterngeneration als anarchisches Getröte ablehnte.

Vor dem Hintergrund des seit 1914 in Europa tobenden Krieges war auch die Stimmung in den USA gedrückt. Am 6. April 1917 erfolgte die Kriegserklärung an Deutschland. Schon im März desselben Jahres dankte der russische Zar Nikolaus II. ab und die Oktoberrevolution kündigte sich bereits an. Das Quintett nannte sich „Original Dixieland Jass Band“ – das Jass mit Doppel-s geschrieben. Es begeisterte mit seiner Musik und seinen regelmäßigen Auftritten das Publikum im „Reisenweber’s“, einem angesagten Club mit Restaurants, Cafés und Varietétheater in New York. Es bot eine energiegeladene Show, die Jazzelemente, Komik und akrobatische Kunststücke vereinte.

„Undisziplinierter Lärm“ für Tontechniker

Der Posaunist spielte sein Instrument sogar mit den Füßen. Der Erfolg war enorm und rief bald die führenden Schallplattenfirmen auf den Plan. Von den beiden bereits bestehenden größeren Firmen lud die Columbia, die sich später CBS und heute Sony nannte, das Quintett als erste zu Aufnahmen ein. Am 30. Jänner 1917 wurden je zwei Takes von „Darktown Strutter’s Ball“ und „Indiana“ aufgenommen. Die Tontechniker mochten jedoch den undisziplinierten Lärm zunächst nicht zur Veröffentlichung freigeben, Columbia entschied sich gegen die Veröffentlichung dieser ersten Jazzaufnahmen.

Erste Jazzplatte der Welt – Original New Orleans Jazz Band
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Die anfängliche Skepsis der Bosse der Schallplattenfirma Victor, die ursprünglich der konkurrierenden Columbia zuvorkommen wollte, war rasch verflogen als sie davon hörten, dass ihr Konkurrent die beiden Aufnahmen nicht veröffentlichte. Victor holt die fünf modisch gekleideten Herren der Band am Montag, den 26. Februar 1917 in den 12. Stock des RCA-Gebäudes in New York in das seinerzeit hochmoderne Aufnahmestudio. Gab es wie schon erwähnt in der Anfangsphase des akustischen Aufnahmeverfahrens nur einen großen Trichter, vor dem sich alle Beteiligten versammeln mussten, hatte in diesem Studio jeder seinen eigenen. Die insgesamt fünf Trichter lenkten die Schallwellen auf ein zentrales Rohr, an dessen Ende sie auf eine Membran trafen, deren entsprechende Vibrationen ein gekoppelter Stichel in eine Wachsmatritze ritzte.

Aufnahme wurde ein riesiger Verkaufserfolg

Für die fünf Musiker hatte der Tonmeister folgende Aufstellung berechnet: Das Kornett musste 25 Fuß, das sind exakt 726 Zentimeter vom Trichter entfernt sein, die Posaune 15 Fuß, die Klarinette fünf Fuß, das Klavier stand direkt darunter, seitlich flankiert vom Schlagzeuger. Zwei Stücke wurden aufgenommen und keiner konnte damals ahnen, dass sie Geschichte schreiben würden: der „Livery Stable Blues“ und auf der Rückseite der Platte der „Dixieland Jass Band One-Step“.

Victor veröffentlicht am 7. März die Aufnahmen, am 17. Mai kommt die 25-cm-Schellackplatte mit 78 Umdrehungen pro Minute und der Seriennummer 18255 in den Handel. Sie kostet 75 Cent und wird sofort ein riesiger Verkaufserfolg. Die Legende sagt, dass sie aus dem Stand weg zwei Millionen Mal verkauft worden ist, was sich aber nicht belegen lässt. Die Karteikarten, auf denen damals die Verkaufszahlen notiert wurden, existieren nicht mehr. Victor nimmt die Original Dixieland Jazz Band unter Vertrag.

Neuartige Instrumentaleffekte

Ich stelle Ihnen nun die Bandmitglieder vor: Henry Ragas spielt Klavier, Larry Shields die Klarinette, Eddie Edwards die Posaune, am Schlagzeug sitzt Tony Sbarbaro, die Band leitete und Kornett spielte Dominick „Nick“ LaRocca. Er war der Älteste mit 28 Jahren, während die anderen Ensemblemitglieder so Mitte Zwanzig waren. Jetzt wird es Zeit für die A-Seite, den „Livery Stable Blues“, – den „Pferdevermietungs-Blues“. Beliebt und bekannt wurde das Stück durch die feurigen Darbietungen mit neuartigen Instrumentaleffekten, etwa den Imitationen von Tierstimmen auf einem Bauernhof: die Klarinette kräht wie ein Hahn, das Kornett wiehert wie ein Pferd, die Posaune muht wie eine Kuh.

Aufnahme wirkt eher behäbig und schematisch

Der Erfolg der Gruppe war ein frühes Beispiel für die weiße Kommerzialisierung schwarzer Musik. Die Aufnahmen wirken im Vergleich zu der Finesse schwarzer Bands allerdings eher behäbig und schematisch. Es gibt daher Vorbehalte, was diese beiden Aufnahmen beziehungsweise ihren Status als „Jazzplatte“ betrifft. Die fünf Musiker improvisieren nur wenig, aber es ist ein gutes Beispiel für das erstmalige Zusammenspiel einer typischen New-Orleans-Frontline mit Kornett, das später bald durch die Trompete abgelöst werden sollte, das energisch die Melodie vorgibt, während die Klarinette und die Posaune darüber unterschiedlich ausgeschmückte Versionen des Themas spielten. Dass sich die Combo als Schöpfer des Jazz feiern ließ, kam bei den schwarzen Musikern natürlich nicht gut an. Weiße Gruppen waren im Allgemeinen weniger versiert im Improvisieren und im Umgang mit swingenden Rhythmen.

New Orleans
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Wie aus „Jass“ der „Jazz“ wurde

Die genaue Herkunft des Wortes “Jazz" ist nicht exakt zu klären. Erstmals erschien 1913 in gedruckter Form das Wort in einer Zeitung in San Francisco, man assoziierte anfänglich Jazz mit etwas Sexuellem. Der wahrscheinlichste Ursprung ist „orgasm“, umgangssprachlich abgekürzt zu „jasm“ oder „jism“. Der Begriff „jass“ stand für Unzucht, und als Bezeichnung für das neue musikalische Genre war er zunächst abwertend gemeint. Um 1915 übernahmen mehrere Bands dieses Schimpfwort provokativ in ihren Namen auf, und es setzte sich sofort durch. Der Legende nach führte die Original Dixieland Jass Band schließlich die Schreibung mit „zz“ ein, weil Witzbolde oft das „J“ auf ihren Plakaten strichen und so aus „Jass“ „ass“ für „Arsch“ machten.

Michael Huemer; ooe.ORF.at