Steve Coleman in Paris, Juli 2004
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Lust aufs Leben

Die Geschichte des Jazz – Teil 6

„Sampling, Scratching and Looping“ – Der Jazz ab dem Jahr 2001 steht im Mittelpunkt des sechsten Teils unserer Jazz-Reihe in „Lust aufs Leben“ am Sonntag, 22.3., ab 21.03 Uhr mit Michael Huemer.

In den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts und Jahrzehnte danach hat sich der Jazz in einem derart schwindelerregendem Tempo gewandelt, dass man von keinem allgemeinen stilistischen Leitbild sprechen kann, mit dem die Jazzszene samt Bandkonzepten charakterisiert werden könnte. Zum Stil ist eigentlich geworden, dass nichts mehr Stil ist. Es scheint sich keine wirklich neue Musikart herauskristallisiert zu haben, die eindeutig dominiert. Unterschiedliche Spielrichtungen und Strömungen, das Überschreiten stilistischer Grenzen werden zum prägenden Bestandteil des Jazz der damaligen Zeit. Dixieland neben Hiphop, warum nicht. Rapper nehmen sich der einen oder anderen Jazzballade an.

„Der Jazz ist tot“ taucht immer wieder auf

Pianist Keith Jarrett spricht in seinen Solodarbietungen ein nicht primär am Jazz interessiertes Publikum an. Die Musik ist nicht wirklich innovativ, sie versucht aber Anschluss ans multimediale Zeitgeschehen zu finden, was eine legitime Zielsetzung ist. „Der Jazz ist tot“ – eine Formel, die seit Ende der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts reflexhaft immer wieder auftaucht. Auch heute gibt es Stimmen, die das behaupten. In Wahrheit war die Jazzmusik noch nie so vital und vielfältig wie gerade um den Jahrhundertwechsel und jetzt. Es stimmt schon. Es gibt keinen einzelnen Musiker mehr, der die Entwicklung eines Jahrzehnts derart prägt wie ein Louis Armstrong, eine Bessie Smith, Duke Ellington, Miles Davis, John Coltrane, John McLaughlin, Charlie Parker und und und. Man könnte aber – wenn man gerade die 90er-Jahre heranzieht – Künstler wie Bill Frisell, Uri Caine, Dave Douglas, Tim Berne, Dave Holland, Joshua Redman auswählen. Und noch viele mehr. Aber keiner hat die stil- und genresprengenden Tendenzen dieser Epoche so faszinierend in seiner Musik gebündelt wie das amerikanische Enfant terrible John Zorn.

John Zorn
John Zorn

Wynton Marsalis

Ob als Komponist, als Bandleader, ob als mittelprächtiger Saxophonist, ob als Musikproduzent samt seinen zahlreichen musikalischen Projekten mit experimentellen Künstlern. Sie konnte man in der letzten Sendung in einigen Beispielen hören. Diesem kreativen Freigeist stand ein Mann gegenüber, der dagegen auftrat und der meinte, dass das alles kein Jazz sei: Wynton Marsalis, ein 1961 in New Orleans geborener Trompeter. Er war schon mit acht Jahren Mitglied einer Marschkapelle. Er legte sich eine so formidable Spieltechnik zu, dass er schon mit 14 mit dem Philharmonieorchester von New Orleans Haydns Trompetenkonzert spielen durfte.

Wynton Marsalis gewidmete Statue in Vitoria-Gasteiz, Spanien
Wynton Marsalis gewidmete Statue in Vitoria-Gasteiz, Spanien

Zwei Karrieren verliefen bei ihm parallel. Eine mit klassischen Studien an der angesehenen New Yorker Juilliard School und eine bei den Jazz Messengers von Art Blakey. Marsalis war Mitglied der Miles Davis Band und widmete sich von 1988 an Projekten, die das Erbe des frühen Jazz wiederaufleben ließen, seien es der New Orleans-Stil oder masterpieces von Duke Ellington. Der Komponist, Bandleader, Musiklehrer und Dozent wollte nach dreißig Jahren Free Jazz, nach zwanzig Jahren Jazz Rock und nach zehn Jahren postmodernen Stilen einen fest in der Tradition verwurzelten akustischen Jazz.

Um den virtuosen Trompeter des Jazz scharte sich eine Szene junger, meist schwarzer Musiker, die sich Young Lions nannten. Sie musizieren in maßgeschneiderten Anzügen und pflegen kultivierte Jazztradition. Marsalis‘ Aufstieg fiel auch in eine Zeit, als der Jazz für seine weitere Entwicklung dringend ein neues, jüngeres Publikum benötigte. Sein frisches, jugendliches Image und sein Talent wurde von Sony promoted. Wyntons älterer Bruder Branford Marsalis zählte zu den jungen Löwen wie die Trompeter Terence Blanchard, Nicholas Payton und Roy Hargrove, der Saxofonist Joshua Redman und Donald Harrison, Pianist Kenny Kirkland, die Bassisten Charnet Moffett und Christian McBride sowie Schlagzeuger Jeff „Tain“ Watts.

Sendungshinweis:

„Lust aufs Leben – Kultur aus allen Richtungen“, 22.3.2020, 21.03 Uhr

M-Base ist permanenter Rhythmuswechsel

Um das Jahr 1984 taten sich in New York junge Musiker zu einer lockeren Kooperative zusammen, die sich „M-base“ nannte. Die Abkürzung stand für „Macro-Basic Array of Structured Extemporizations". Der Name verriet nicht allzu viel über die Absichten der Truppe, doch die Presse und die Schallplattenfirmen zeigten sich interessiert. Auf der Website wird zunächst einmal erklärt, was M-Base nicht ist wie zum Beispiel ein musikalischer Stil oder eine Ausrede, um dies und das zu tun oder nicht zu tun. Generelles Anliegen dieses Musikerkollektivs ist es, die Sprache des Jazz zu erweitern, indem man auf die rhythmische Energie des Funk, des Hip-Hop, des Rap und Drum’n’Bass zurückgreift. Das Zusammenwirken dieser Gruppe war sehr organisch. Sie waren alle ungefähr gleich alt, versuchten über die Runden zu kommen und hörten ständig Musik. Alle komponierten, alle experimentierten, spielten schwierige Musik vom Blatt und forderten sich so einander heraus, um ihre Professionalität zu steigern. Hervorstechendstes Merkmal der M-Base-Musik ist der permanente Rhythmuswechsel, sich ständig verändernde Metren einer mit Funk, Rock und Rhythm & Blues großgewordenen Musikergeneration, wobei die Mitglieder unterschiedlichen musikalischen Stilen anhingen. Die Sängerin Cassandra Wilson sang Standards, Originalkompositionen von Abbey Lincoln und Betty Carter. Die Pianistin Geri Allen spielte in traditioneller Triobesetzung. Als Zentralfigur der M-Base-Bewegung gilt Steve Coleman. Er kam als 21-jähriger per Autostopp von Chicago nach New York, wo er zunächst einige Monate lang in einer Jugendherberge übernachtete und als Straßenmusiker Geld für das Nötigste verdiente. Coleman wollte nicht etwas machen, was bereits gemacht war. Es ging ihm darum, sowohl ältere als auch gegenwärtige Entwicklungen als Bausteine oder Sprungbrett für neue, eigene Konzepte zu nutzen. Er verbindet die schnelle Phrasierung des Bebop, das Klangvolumen des Rock mit der Motorik von Funk und HipHop, für ihn ist M-Base kein Stil sondern Lebenshaltung ebenso wie für Greg Osby und Gary Thomas. Sie pendeln zwischen den Extremen von Tradition und Futurismus und wurden von vielen deswegen kritisiert, das alles nur ein Hype und viel Lärm um nichts sei.

Dutzende junge Musiker beeinflusst

Trotzdem beeinflussten sie Dutzende jüngerer Musiker, die heute aus der Jazzszene nicht wegzudenken sind wie Vijay Iyer, Craig Taborn, Jason Moran, Ralph Alessi, Ambrose Akinmusire, Steve Lehman, Tyshawn Sorey. Sie reagierten energisch auf einen Wynton Marsalis, der ihrer Ansicht nach den Jazz zurück an den Start stellte. Wäre Marsalis & Co nicht gewesen, hätte es eine derart radikale Position von M-Base nicht gegeben. Dieses Musikerkollektiv stellte im besten Sinne eine Gegenprobe zum Neokonservatismus um die Young Lions dar. Altsaxophonist Steve Coleman verfügt nicht nur über eine stupende Virtuosität und eigenen Ton, er beweist in seiner Formation „Five Elements“, wie Jazz lebendig und innovativ sein kann. Er stellt im nächsten Stück seine Musiker persönlich vor. Wenn man ihn und seine Band danach gefragt hat, wie sie es schaffen, über die hochkomplexen Rhythmen und Metren spontan zu improvisieren, antworteten sie: „durch Intuition“.

Steve Coleman in Paris, Juli 2004
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Steve Coleman in Paris, Juli 2004

Um die Jahrhundertwende erlaubt das neue elektronische Equipment den Jazzmusikern, völlig neue Sounds zu kreieren. Der Sampler, der Computer bzw. der Laptop sind in der Zwischenzeit so handlich, reisetauglich und erschwinglich, dass sie zum wichtigen Bestandteil vieler Jazzbands wurden. Man hat die Art wie mit Sampling umgegangen wird oft als unkreativ angesehen, weil es dem Künstler erlaubte, Musik zu machen, ohne dass er wirklich ein herkömmliches Instrument beherrschen musste. Aber auch hier geht es wie im Jazz um Improvisation, um die Fähigkeit, schnell und augenblicklich kreativ zu sein. Es waren gerade auffallend viele europäische Musiker und Bands, die Elemente von Drum’n’Bass und elektronische Grooves aus der Club-Szene als Basis für großartige Improvisation nützen: in Norwegen Bugge Wesseltoft, Nils Petter Molvaer, in Frankreich Erik Truffaz und die Band St. Germain.

9/11 – einschneidend für den Jazz

Am 11. September 2001 versetzten die Terroranschläge auf das World Trade Center die ganze Welt in Schock, besonders aber die Vereinigten Staaten und New York, dem Ort dieses Attentates. Es war vor allem für den Jazz ein schwerer Schlag, der nicht schlimmer hätte sein können. Schon 1994 hatte hatte es einen schlimmen Vorboten gegeben mit der Implementierung der “Zero Tolerance"-Politik von Rudolph Giuliani nach seiner Wahl zum Bürgermeister in New York. Dem war eine besorgniserregende Kriminalitätsentwicklung in New York City vorausgegangen. Damit begann eine umfassende Gentrifizierung erst Süd-Manhattans und später großer Teile Brooklyns. Damit verbunden war ein gravierender Wechsel von einer statusniedrigen zu einer statushöheren Bewohnerschaft, also der Verdrängung einkommensschwacher Haushalte durch bauliche Aufwertung von Gebäuden, Veränderungen der Eigentümerstruktur und steigenden Mietpreisen. Mit der sozialen und kulturellen Durchmischung von New York, die dem Obdachlosen genauso viel Platz einräumte wie dem Börsenmakler, die es freien Künstlern ermöglichte, leerstehende Gebäude als Ateliers und als preiswerte Wohnungen zu benutzen, war es vorbei. Das Tempo verlangsamte sich, die Vielfalt reduzierte sich wie der Lärm, mit der Buntheit war es vorbei. Die berühmte “Knitting Factory", der Spielplatz schlechthin für John Zorn und seine Kollegen, wird sofort geschlossen, die Knitting Factory Records und damit ein Großteil des Bestands der New Yorker Jazzszene seit 1990 wurde achtlos auf die Straße gestellt. Andere wichtige Plattenläden verschwinden ebenso von der Bildfläche wie Clubs und Lofts. Genau das was New York als hyperaktiver Marktplatz ausmachte, auf dem es vierundzwanzig Stunden durchgehend wimmelte, war vorbei. Das kreative Leben um die Jahrhundertwende zieht sich in die virtuelle Welt hinter den Fassaden zurück. Das Internet ist der neue soziale Erlebnisraum. Diese Art von Rückzug des amerikanischen Jazz wird auch in Europa wahrgenommen und das nicht nur auf den Vertriebswegen im Tonträgerbereich sondern auch in der Live-Präsenz amerikanischer Bands. Für einen europäischen Jazzfan war das Jazzgeschehen in Amerika nicht mehr das Maß der Dinge. Der Jazz in Europa hat sich emanzipiert und profitiert nach 2001 durch eine bessere Aufstellung und Vernetzung. Anders als noch einige Jahrzehnte davor polarisierte er sich nicht mehr durch nationale Ausprägungen.

Michael Huemer