Saxophon
Pixabay/Free-Photos
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Lust aufs Leben

Der Bruch im Jazz in den 1960er-Jahren

Im vierten Kapitel der Schwerpunktserie „Jas? Jasz? Jazz? – der Soundtrack aus zwei Jahrhunderten“ kommt es zum radikalsten Bruch in der Geschichte des Jazz. In den 1960er-Jahren werden seine innermusikalischen Bau- und Gestaltungsprinzipien nicht nur teilweise zertrümmert.

Es wandelt sich völlig das Selbstverständnis der Musiker, vor allem der Jazzmusiker in der Art und Weise, in der sie die gesellschaftliche Realität um sich herum interpretieren und bewältigen. Man wird diese Epoche und den Stil später als „Free Jazz“ bezeichnen, oft wird auch der Ausdruck „Avantgarde Jazz“ verwendet.

Sendungshinweis

„Lust aufs Leben – Kultur aus allen Richtungen“, 23.2.20, 21.03 Uhr

Wenn man den Begriff “Free Jazz“ nur so nehmen würde, wie er sich darstellt, muss man sich fragen: frei wovon und frei wofür. Die beiden Fragen lassen sich nur unterschiedlich beantworten. Hier zeigt sich, dass dem „Free Jazz“ um und nach 1960 zwar ein gemeinsamer Gedanke von Befreiung zugrunde lag, aber durchaus kein gemeinsames stilistisches Interesse.

Dazu waren die Musiker einfach zu unterschiedlich. Sie konnten noch im Bebop und Hardbop mit jedem anderen gemeinsam musizieren, im „Free Jazz“ klafften die Auffassungen so weit auseinander, dass das nicht mehr möglich war. Für die junge Musikergeneration schien es um die Wende der 1950er- in die -60er-Jahre so zu sein, dass die bisherigen Spiel- und Verfahrensweisen im Jazz ausgeschöpft waren wie zwanzig Jahre zuvor in der musikalischen Situation, aus der heraus der Bebop entstanden war.

Suche nach neuen Formen

Sie, die Musikergeneration, suchte neue Formen, sie wollte mit unkonventionellen musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten und Ausdrucksformen experimentieren. Kollektiv, wild, frei und hart mit sich kreuzenden und reibenden Linien. „Free Jazz“ als Stilbegriff stellt extreme Musikbereiche dar, deren einzige verlässliche Gemeinsamkeit auszeichnet, dass sie nur wenigen Hörern Genuss bereiten.

Kritiker sahen in der „Free Jazz“-Bewegung die endgültige Abschaffung herkömmlicher musikalischer Werte zugunsten der Effekthascherei. Es ist daher wichtig das Wörtchen „free“ als eine Freiheit der Wahl zwischen einer grenzenlosen Zahl von Alternativen zu begreifen und nicht nur als bloße Auflehnung gegen die Tradition. Konkret gehörten die bisher im Jazz fraglos gültigen Maßstäbe dazu wie der swingende Beat, der nun oft nur noch in einem gemeinsam erfühlten Puls weiterlebte, ferner der Bezug auf die Harmonik, die ihre Funktion einbüßte und dem freien atonalen Spiel wich. Die temperierte Skala, die Ganztonleiter wird häufig nicht nur relativiert, sondern gänzlich abgeschafft.

„Let’s play the music and not the background“

Ornette Coleman, der wie John Coltrane, Cecil Taylor und Paul Bley zu den Vätern des Free Jazz gezählt wird, hat das mit folgendem aufsehenerregenden Satz so formuliert: „Let’s play the music and not the background“ – „Lasst uns Musik spielen und nicht ihren Hintergrund“. Damit war das Infragestellen jeder Art von Regeln gemeint ebenso wie die wachsende Bedeutung des spontanen Aufeinanderhörens und -reagierens in der Band.

Die traditionelle Rollenverteilung in Solist und Begleitende wurde quasi aufgehoben, anstelle des Solos bevorzugt man Kollektivimprovisationen. Wesentlich neu im Jazz der 1960er-Jahre ist eine Ausweitung des musikalischen Klanges in den Bereich des Geräuschs samt einer Betonung von Energie und Intensität, was nicht zwangsläufig mit Aggression und Gewalt zu tun haben muss, sondern mit der Freude am Klang, als kommunikatives Element und Auslöser kollektiver Ekstase.

Zugang zu „Free Jazz“ oft schwierig

Viele Hörerinnen und Hörer finden normalerweise nur wenig Vergnügen am „Free Jazz“, weil diese Musik oft mit allzu viel konzeptuellem Gepäck befrachtet ist. Zumeist wird sie auch in einen intellektuellen und ideologischen Rahmen gestellt, der einen Zugang erschwert. Lassen Sie sich einfach vom Fluss dieses Avantgarde Jazz mitreißen, betrachten Sie ihn als eine wilde akustische Landschaft mit vielen Überraschungen, in der es keine Straßen und Grenzen gibt, an denen man sich orientieren könnte.

Ornette Coleman…

Der Hauptakteur der 1960er-Jahre-Avantgarde war der umstrittene Ornette Coleman, der dazu noch ab und an ein Altsaxofon aus weißem Plastik spielt. Am 21. Dezember 1960 treibt er es endgültig auf die Spitze. Coleman bringt acht Musiker im Studio zusammen. Er lässt sie frei miteinander, gegeneinander, durcheinander spielen. Außer ein paar lockere Absprachen gibt es nichts. Seinem Quartett mit Don Cherry an der Taschentrompete, Charlie Haden am Kontrabass und Billy Higgins am Schlagzeug hat er einen zweiten Vierer hinzugefügt. Eric Dolphy an der Bassklarinette, Freddie Hubbard an der Trompete, Scott LaFaro am Kontrabass, Ed Blackwell war der zweite Schlagzeuger. Diese acht Musiker führten Colemans Vorstellung von freier Gruppenimprovisation zu einer Vollendung, wie sie im Jazz nie zuvor gehört worden war. Heraus kommt ein 38 Minuten lang brodelndes Stück mit dem Titel „Free Jazz – A Collective Improvisation by The Ornette Coleman Quartet“, der dem neuen Jazz und seiner Bewegung ihren Namen gibt.

… und John Coltrane als Hauptakteure

Neben Ornette Coleman ist John Coltrane einer der einflussreichsten Free-Musiker. Er kam 1926 in High Point, in North Carolina auf die Welt. Er zählte bald zu den etablierten Künstlern. 1959 ist er Mitglied des Quintetts von Miles Davis. 1965 zeigt er seine Solidarität mit einer Gruppe sozial unterprivilegierter junger Musiker der New Yorker Szene. Er versammelt an einem warmen Nachmittag Ende Juni zwei Tenorsaxophonisten, Pharoah Sanders und Archie Shepp, die beiden Trompeter Freddie Hubbard und Dewey Johnson, die beiden Altsaxophonisten John Tchicai und Marion Brown, die beiden Bassisten Art Davis und Jimmy Garrison sowie McCoy Tyner am Klavier und Elvin Jones am Schlagzeug. Was folgte, war ein vierzigminütiges Nonstop-Experiment in entfesselter Energie und spontaner Form. Das berühmte musikalische Dokument dieser Zusammenarbeit heißt „Ascension“ – das bedeutet „Aufstieg“, „Himmelfahrt“, nach Angaben der Musiker eine Aufnahme, die eine an die Grenzen des Mitvollziehbaren und physisch Erträglichen gehende wahnwitzige Intensität besaß.

Überforderte Hörer, verschreckte Anhänger

Musik, die quietscht und röhrt, sich ballt und spreizt, mit durcheinander laufenden Stimmen. Die elf Musiker bewegen sich harmonisch völlig frei und machen aus dieser Schallplatte kein locker genießbares Vergnügen, aber ein überwältigendes Hörerlebnis. Sie spielten am äußersten Rand der technischen Möglichkeiten ihrer Instrumente, das Ganze erscheint in seiner Intensität wie ein kollektiver Aufschrei. Der frenetische Sound verschreckte selbst Anhänger Coltranes, es kam zu heftigen Kontroversen, viele Hörer waren einfach überfordert. Entstanden sind zwei Takes in der Länge von nicht knapp 80 Minuten.

Bald war auch die Zeit mit den friedlichen Märschen der Bürgerrechtsbewegung und der schwarzen Einheitsfront in den frühen 1960er-Jahren vorbei. Sie wurden um 1968 von den Versammlungen der Black-Panther-Bewegung samt hochgereckten Fäusten abgelöst. Die beiden politischen Führer der Schwarzen, Reverend Martin Luther King und Malcolm X markieren die beiden unterschiedlichen Ausrichtungen des zukünftigen Weges, den das schwarze Amerika einschlagen würde. Auf der einen Seite der passive, friedliche Widerstand, auf der anderen das aggressivere, militante Drängen auf Veränderung.

Mit Bürgerrechtsbewegung veränderte sich auch der Jazz

„Alle Menschen sind gleich, sie alle sind von einem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet, zu denen das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.“ Das sind Worte aus der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. So erhob sich überall in den Vereinigten Staaten die Stimme der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, um diese Rechte einzuklagen. In dieser Stimmung der Radikalität, der Suche nach Freiheit und nach Neuem, hat sich auch der Jazz verändert. Daher spielt der schwarze Musiker sein Instrument und entlockt ihm Klänge, an die er nie zuvor gedacht hat. Er improvisiert und alles kommt aus seinem Inneren, aus seiner Seele. Die afroamerikanischen Free Jazzer wenden sich also nicht nur gegen musikalische Schranken und Einschränkungen sondern auch gegen gesellschaftliche Barrieren. Archie Shepp’s Song über Malcolm X, ein buddhistisches Mantra von John Coltrane, die Beschwörung von „Peace und Happiness“ von Pharoah Sanders im Stück „The Creator has a master plan“ habe ich mit Zitaten von Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern ergänzt.

Neben Politik auch Suche nach Spiritualität

Neben der politischen Aussage steht auch die Suche nach einem religiösen und spirituellen Bewusstsein. Die Musik des Saxophonisten John Coltrane ist ein Beispiel dafür, wie sich dieses Forschen nach einer neuen Spiritualität in einem veränderten Klangbild niederschlägt. „Trane“ – so sein Spitzname – war durch übermäßigen Drogenkonsum in eine Krise geraten. Am 9. und 10. Dezember 1964 nimmt er mit seinem Quartett „A Love Supreme“ auf, ein spirituelles Statement über die Überwindung seiner Drogensucht. Diese Platte wird für viele der Höhepunkt im Schaffen Coltranes. „A Love Supreme“ ist ein einziges großes Gebet von hymnischer Eindringlichkeit. Den Text verfasste Coltrane selbst: „Alles Lob sei Gott, der allein Lob verdient … Ich will alles tun, um deiner, o Herr, würdig zu sein“.

Das Album fand bei den weißen Hippies jener Zeit ebenso viel Zuspruch wie bei schwarzen Bürgerrechtsaktivisten. Die eher düstere Plattenhülle erwähnt in keinem Wort die beteiligten Musiker. Vielleicht wollte Coltrane klarstellen, dass es sich um die ultimative spirituelle Erklärung eines einzigen Künstlers handelt. Am Klavier saß McCoy Tyner, am Kontrabass Jimmy Garrison und am Schlagzeug Elvin Jones. Viele sahen in diesem Quartett eine der für einen gewissen Zeitraum traumhaftesten Gruppen des modernen Jazz.