Analyse: Wählerlisten und ihre Folgen

Für Aufsehen hat am Wochenende die Berichterstattung des ORF OÖ über österreichische Wählerlisten zum Referendum des türkischen Präsidenten Erdogan gesorgt. Gernot Ecker analysiert ein Wochenende voll Überraschungen.

Der ORF Oberösterreich bekam Einsicht in diese Listen und das Thema nahm breiten Raum in der Berichterstattung ein. Darauf meldeten sich Betroffene, deren Namen in den Wählerverzeichnissen zu finden sind, die aber längst die türkische Staatsbürgerschaft zurückgelegt haben. In den nächsten Tagen sollen Teile der Wählerlisten den Behörden zugänglich gemacht werden.

Mehr als 100.000 Namen

Überraschung 1: Es gibt offenbar umfangreiche Wählerlisten mit über 100.000 Namen von in Österreich lebenden Türken, die für das Erdogan-Referendum wahlberechtigt waren. Sie alle müssen dafür die türkische Staatsbürgerschaft haben.

Listen relativ leicht zu bekommen

Überraschung 2: Diese Listen haben mehrere Personen - in Oberösterreich und in Wien. Alle beteuern bei unseren Recherchen, dass es nicht allzu schwierig sei, diese Wählerverzeichnisse zu bekommen.

Anscheinend doch nicht so einfach

Überraschung 3: Die Republik Österreich, ganz konkret das Innenministerium oder entsprechende Landesbehörden scheinen es nicht geschafft zu haben, an diese Listen zu kommen - oder wollen gar nicht an sie kommen. Obwohl in den letzten Tagen die verbotenen Doppelstaatsbürgerschaften eines der meistdiskutierten innenpolitischen Themen waren.

Erdogan-Befürworter und Erdogan–Gegner

Überraschung 4: Auf diesen Listen stehen türkischstämmige Österreich, die glaubhaft versichern, die türkische Staatsbürgerschaft seit Jahren nicht mehr zu besitzen und sie auch nicht mehr wiederbekommen zu haben. Sie beteuern, wenn sie gewusst hätten, in irgendeiner Weise wahlberechtigt gewesen zu sein, hätten sie gegen Erdogan gestimmt. Erdogan-Befürworter haben sich bei uns nicht gemeldet. Zumindest die Vermutung aber liegt nahe, dass auch tausende von ihnen in den Wählerverzeichnissen auftauchen, obwohl sie eigentlich Österreicher sind.

Wahlliste für Referendum in der Türkei

ORF

Wie viele von ihnen gewählt haben, ist nicht klar. Zu hinterfragen wäre es angesichts der vielen organisierten Busfahrten zu den Wahllokalen aber allemal. Auch, wie viele der auf den Listen aufscheinenden Personen neben der österreichischen auch wieder die türkische Staatsbürgerschaft angenommen haben. Das wäre ungesetzlich und würde sofort zum Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft führen.

Bund und Länder

Überraschung 5: Während der Innenminister hohe Geldstrafen für Doppelstaatsbürgerschaften fordert, hat sein eigenes Ministerium die derzeit wohl stichhaltigsten Beweise dafür, nämlich die Wählerlisten, nicht. Man verweist stattdessen ein ganzes Wochenende lang auf die Länder. Diese seien für Staatsbürgerschaften zuständig. Das sei deren Angelegenheit.

Lückenlose Aufklärung?

Warum hat es in den letzten vier Tagen seit Bekanntwerden dieser Ungereimtheiten aus der Bundespolitik so gut wie keine Wortmeldung gegeben, die eine lückenlose Aufklärung in Aussicht stellt oder das knappe Ergebnis des Türkei-Referendums offiziell in Frage stellt? Einzig Oberösterreichs Landesrat Elmar Podgorschek (FPÖ) verspricht, dem ganzen nachzugehen, wenn er Einsicht in die Verzeichnisse bekommen sollte.

EU und die Flüchtlinge

Eine mögliche Antwort: Vermutlich, weil zehntausende Flüchtlinge in türkischen Lagern sitzen und es angesichts der vielen brisanten Wahlen in Europa in den kommenden Monaten - Frankreich, Deutschland oder Großbritannien - ein unkalkulierbares politisches Risiko wäre, wenn Präsident Erdogan den Flüchtlingsvertrag mit der EU aufkündigen würde. Neue Flüchtlingsströme würden die ohnehin angeschlagene Union in eine neue Krise bringen. Darum verhält man sich lieber ruhig und akzeptiert viele Ungereimtheiten.

Gernot Ecker, ooe.ORF.at

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